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Musik-Software erzeugt perfekte Gänsehaut

Die Stellen in einem Musikstück, an denen man "in die Knie geht" und bei denen einem ein Schauer über den Rücken läuft, waren es, die Oertl seit seiner Kindheit fasziniert haben. Er studierte Klavier, Technik sowie Filmkomposition an der Thornton School of Music in Kalifornien und trotzdem blieb seine Frage, wie ein solcher Gänsehauteffekt zustande kommt, vorerst unbeantwortet. "Keiner konnte mir eine Antwort geben. Sie haben zwar die Tools in der Hand gehabt, wussten aber selbst nicht genau, wie sie funktionieren", beschreibt Oertl das Phänomen beim Treffen mit der futurezone im sektor5, einem Coworking Space in Wien.

Die Antwort darauf fiel ihm dann eines Tages während der Zahnpflege ein und er verwandelte seine Theorie in eine naturwissenschaftliche Doktorarbeit. "Es hat zu tun mit Trancen und Lernzyklen. Trancen sind wiederkehrende Schleifen, dadurch wird ein Lernprozess initiiert und es kommt zu einer Manifestation im Gehirn, die zu Hormonausschüttungen im Körper führt. Das sind die Schauer, die einem über den Rücken gehen oder der Gänsehauteffekt", erklärt Oertl.

Producer-Software "Liquid Notes"
Oertl hat daraufhin ein Start-up namens Re-Compose gegründet, bei dem er sich seine langjährig gesammelten Erkenntnisse zu Nutze machen möchte. Doch die Forschung dauerte weitere zehn Jahre, seine Ideen wurden oft als "Hokus-Pokus" abgetan. Jetzt steht die erste Einführung eines tatsächlichen Produkts vor der Tür. Mit "Liquid Notes" bringt das zehnköpfige Team, das in Wien und New York angesiedelt ist, eine Software auf den Markt, die die Elemente analysiert, die für derartige Effekte verantwortlich sind und mit der man in Harmonien der Musikstücke eingreifen kann.

"Harmonien sind Konstrukte aus Akkorden, Skalen, Zusammenhängen und Funktionen der Musik. Die werden von unserem Programm analysiert und resynthetisiert", erklärt Oertl, der als Entwicklungsleiter und Geschäftsführer agiert. Das Programm eignet sich für Musikproduzenten und Komponisten, die Sequenzer (eine elektronische Software zur Aufnahme und Bearbeitung von Daten zur Erstellung von Musik) verwenden und die es gewohnt sind mit MIDI (einer digitale Schnittstelle für Musikinstrumente) zu arbeiten.

"Verändert Komponisten-Handschrift nicht"
"Man kann damit, wenn man musikalisch nicht so gut ausgebildet ist, oder wenn man sich normalerweise hauptsächlich mit Klängen beschäftigt, auch Harmonien wie ein Profi bearbeiten", beschreibt Oertl die Zielgruppe. Doch auch Profi-Musiker können einen Nutzen davontragen, denn es gibt eine Art Improvisationshilfe, die falsche Töne verhindert. "Das darf man sich aber nicht wie bei einer App vorstellen, die ein buntes Interface hat und bei der einem nach fünf Minuten langweilig wird, weil alles gleich klingt", meint Oertl. Stattdessen erkennt das Programm auch Durchgangstöne oder "verbotene" Noten. "Wir greifen auf die Komponistendaten zu, verändern aber die Handschrift des Komponisten nicht."

"Liquid Notes" funktioniert derzeit als Standalone-Programm, das heißt es kann nicht wie ein Plug-in im Sequenzer geöffnet werden, sondern die MIDI-Daten müssen vor der Benutzung exportiert werden. Die Harmonien lassen sich dann im Programm mit unterschiedlichen Levels verändern. "Bei den Akkorden kommen auch Ergebnisse raus, die kein Standard sind und von den Hörgewohnheiten abweichen. Manches klingt echt schräg, obwohl es richtig ist", beschreibt Oertl die Variationen, die damit möglich sind.

"Man kann tief in die Strukturen eingreifen. Wir haben das nach Wahrscheinlichkeiten gestaffelt, etwa wie wahrscheinlich bestimmte Akkordfolgen sind", so die mathematische Komponente. Die Beta-Version des Programms wird ab Anfang Juni für auserwählte Testpersonen zugänglich sein (Interessierte können sich via Website anmelden), die Veröffentlichung der Vollversion soll am 1. September folgen. Im Laufe der Entwicklungszeit werden weitere Funktionen dazukommen wie etwa eine Melodie-Analyse.

Interaktive Musik für Sportler
Doch das Team rund um Re-Compose arbeitet auch an einer zweiten Idee von Oertl, die sich mit interaktiven Musiksysteme beschäftigt. "Ich will Musik dynamisieren, interaktiv machen. Statt eine CD ins Laufwerk zu schieben, deren  Musik immer gleich bleibt, soll man in die Komposition eingreifen können und diese umarrangieren können", beschreibt Oertl seine Zukunftsvision.

Dies sei etwa für Computerspiele geeignet, etwa wenn User bei bestimmten Spielsituationen mit Klängen für falsch gesetzte Aktionen "bestraft" werden. Eine andere Idee von Oertl ist der Einsatz beim Sport. "Man wird noch motivierter, wenn man beim Sport seine eigene Musik komponiert", ist der Projektleiter überzeugt. Die Aerobic-Gruppe könne man etwa mit Sensoren von Biofeedback-Geräten vernetzen, die Signale an ein System funken und "je nach Können oder Motivation produziert jeder in der Gruppe Musik. Jemand ist die Flöte, ein anderer der Bass. Damit wird die höchste Form  des Erlebens erreicht", meint Oertl.

"Markt ist super hart"
Diese Idee ist jedoch noch nicht produktreif. Derzeit sind Oertl und sein Team auf der Suche nach Investoren, um die Weiterentwicklung von "Liquid Notes" vorantreiben zu können, denn die Forschungsfördergelder von INiTS, FFG und dem aws sind bereits aufgebraucht. "Als österreichisches Start-up ist es super hart am Markt. Wir kratzen permanent am Limit und ich hoffe, dass sich diese Situation bald ändert", so Oertl, der seine Vision "Musik zu machen und Freude in die Welt zu bringen", auch weiterhin umsetzen will.

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Barbara Wimmer

shroombab

Preisgekrönte Journalistin, Autorin und Vortragende. Seit November 2010 bei der Kurier-Futurezone. Schreibt und spricht über Netzpolitik, Datenschutz, Algorithmen, Künstliche Intelligenz, Social Media, Digitales und alles, was (vermeintlich) smart ist.

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